Wenn Retrospektiven verpuffen
Konzentriert findet Inspect and Adapt oft im Rahmen von Retrospektiven statt. Teammitglieder kommen alle paar Wochen für teils mehrere Stunden zusammen. Es wird besprochen, es wird vorgeschlagen, es wird vereinbart. Und dann?
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Gemeinsam an Verbesserung arbeiten ist ein hohes Gut, das der Wertschöpfung dient. Bessere Prozesse, bessere Tools und Psychological Safety zahlen alle auf die Unternehmensziele ein – wenn sie denn erreicht werden. Der wichtigste Grundsatz beim agilen Arbeiten ist Inspect and Adapt. Um diesem Prinzip der kontinuierlichen Verbesserung gerecht zu werden, muss die Arbeit transparent sein und es muss eine offene Kommunikation herrschen. Inspect and Adapt erstreckt sich auf alle Bereiche – ganz gleich, ob es sich dabei um Prozesse, Qualität, Quantität oder Kommunikation handelt.
Man müsste mal … In Konjunktiven gefangen ist es schwierig, die Umsetzungsebene zu erreichen und konkret Antipatterns in Projekten anzugehen. Retrospektiven (auch Retros genannt), richtig angewendet, sind gerade im agilen Umfeld das Mittel der Wahl, um besser zu werden. Wenn ich als Coach neu zu Teams dazukomme, schaue ich gerne, ob es eine Art Dokumentation zu stattgefundenen Retrospektiven gibt. Wenn ja, dann schaue ich nach Action Points, die festgehalten wurden und was damit passiert ist. In manchen Fällen wird den Action Points nachgegangen und eine schrittweise Verbesserung findet statt oder lässt sich vermuten. Jedoch sehe ich ebenfalls seitenweise offene Action Points – Vorhaben, die gemeinsam festgehalten, jedoch nicht umgesetzt wurden. Wie kann das sein? Es gab doch die besten Intentionen.
Ursachen einer Retro-Verpuffung
Was sind die Ursachen für so eine fehlende Umsetzung? Unsichtbare Dokumentation. Was für einen Stellenwert hat eine Zusammenfassung für das Team? Liegt sie z. B. in einem Confluence-Bereich, der von den Teammitgliedern eher selten bis gar nicht frequentiert wird? Natürlich gilt auch bei einer Retro nur so viel wie nötig und so wenig wie möglich zu dokumentieren, denn die Produktion von Dokumenten macht schließlich nicht agiler.
Tools sind hier auch weniger die Lösung als Mittel zum Zweck. Nach dem Kanban-Prinzip „Da anfangen, wo man ist“ schaue ich gerne, was Teams bisher wirklich nutzen. Manchmal muss erst Ordnung reingebracht werden, aber meistens gibt es frequentierte Bereiche, die sich auch für Retro-Dokus eignen. Manchmal reicht es, einfach die Verbesserungsvorhaben direkt im Backlog zu platzieren und einzuplanen.
Untergang im Alltag
Allzu hoher Produktionsdruck oder konstantes Firefighting lassen den Fokus von Verbesserung abschweifen bzw. den notwendigen Fokus erst gar nicht zu. Wenn nur hinterhergerannt wird, ist es ausgeschlossen, die Strecke zu gestalten. Es wird lediglich reagiert und die gegebenen Umstände im schlimmsten Fall als normal angesehen. Die Ursachen können vielfältig sein. Eine volatile Systemlandschaft, die mit Mühe und Not am Leben erhalten wird, eine Technical-Debt-Kakophonie, chronische Unterbesetzung, fehlende Priorisierung, unklare Entwicklungsprozesse und vieles mehr.
Jedes noch so wohlgemeinte Vorhaben kann nur schwer oder gar nicht stattfinden, wenn es schlicht und einfach keine Zeit gibt, um Impediments abzubauen. Also einfach Zeit schaffen – schön wäre es! Die ersten zarten Schritte von Transparenz und einer Arbeitsplanung sind sicherlich ein guter Weg, um mit der Realität umzugehen.
Fehlende Nachhaltigkeit
Wie wird mit Action Points umgegangen? Manchmal fehlt einfach, dass im Team daran erinnert wird, dass Verbesserungsmaßnahmen stattfinden sollen. Teams, die noch auf dem Weg der Reife sind, benötigen mehr Unterstützung und müssen noch Erfahrungen machen, die dann erst in die Arbeitsweisen übergehen können. So finde ich mich als Coach dann häufiger in der Rolle, Fragen zu stellen und dadurch Lösungen anzustoßen. Gerne biete ich aber auch „Good Practices“ an, z. B. die Priorisierung von Retro-Vorhaben im Backlog. Was für das eine Team funktioniert, muss jedoch keine Allgemeingültigkeit haben.
Die Ownership von Action Points zahlt ebenfalls auf Nachhaltigkeit ein. Während das Pull-Prinzip und Cross-Funktionalität hohe Güter sind, kann es trotzdem sinnvoll sein, Ownership für solche Vorhaben frühzeitig explizit zu machen. Der vermeintliche Wert von Retro Action Points kann für manche Teammitglieder im ersten Moment durchaus unklar sein, dann ist der Griff zu produktiven Themen im Backlog naheliegender.
Unkonkrete Vorhaben sind also schwer greifbar. Gibt es jetzt eine Aufgabe, die sich jemand nimmt, oder gibt es in der Wahrnehmung nur eine vage Aussage zu einem Missstand? Timeboxing in Retrospektiven helfen mit der Strukturierung, jedoch helfen sie wenig, wenn am Ende nichts Greifbares rauskommt. Explizite Formulierungen und sogar Akzeptanzkriterien schaffen hier Klarheit und forcieren Bewegung.
Einflussmöglichkeiten
Eine gute Übung für Teams ist es, sich folgende Frage zu stellen: „Was liegt in unserer Macht, das wir ändern können?“ Im Team und auf Teamebene ist es in der Regel einfacher, kleine Schritte in Richtung Verbesserung zu gehen. Das Maß an Einfluss auf andere Ebenen schwindet in der Regel auf dem Weg nach oben bzw. nach außen. „Circles of Influence“ ist ein Konzept, das durch Visualisierung hilft, Bereiche zu erkennen, die mehr Aufmerksamkeit benötigen. Im Grunde geht es um eine Dreiteilung. In der äußeren Hülle, dem „Circle of Concern“ oder „Kreis der Bedenken“, befinden sich Inhalte, auf die kein Einfluss genommen werden kann. Der „Circle of Influence“ oder „Einflussbereich“ ist der Bereich, auf dem bedingt etwas bewegt werden kann. Auf den „Circle of Control“ oder „Kreis der Kontrolle“ kann unmittelbarer Einfluss genommen werden.
Sicherlich gibt es immer wieder mal bedenkenschaffende Einflussfaktoren, wie z. B. einen scheußlichen Produktschnitt, der Antipattern per Design etabliert. Trotzdem ist es sicherlich sinnvoll, Transparenz für Impediments zu schaffen, die nur anderswo gelöst werden können. Teamentwicklung und Organisationsentwicklung gehen zwar gerne Hand in Hand, jedoch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Darauf zu warten und zu vertrauen, dass etwas passiert, ist nicht zielführend.
Das Format passt nicht zu den Teilnehmer:innen
Manche Teams blühen auf, wenn sie einfallsreiche Retros durchführen und gemeinsam feststellen, welcher Wind in den Segeln sie vorantreibt und welche Anker sie zurückhalten. Andere Teams möchten nur Real Talk. Gezieltes Adressieren von Umständen mit klaren, schnellen Vorhaben ohne großes Check-in und anregenden Metaphern. Beides hat seine Berechtigung und ist in der richtigen Kombination zielführend. Wenn sich jedoch nur ein wie auch immer geratener Hammer im Werkzeugkoffer befindet, besteht die große Gefahr, mit den Retros eher zu traktieren, als etwas voranzubringen.
Gewöhnungseffekte
Beim Gewöhnungseffekt geht es um emotionale Erschöpfung als Reaktion auf frustrierende Umstände oder Themen. Bei dauerhaft ungelösten Problemen ohne wahrnehmbare Verbesserungen kann ein Resignationseffekt eintreten. Betroffene möchten sich einfach nicht mehr mit bestimmten Themen beschäftigen. Solche Umstände können dann als normal empfunden werden. Neue Teammitglieder lernen diese Dysfunktion als normal und unumstößlich kennen, was leider einen nachhaltenden Einfluss auf die Unternehmenskultur hat.
Wenn also Retros verpuffen, dann sinkt ihr Stellenwert und zahlt sogar auf das Gefühl ein, dass es zu viele sinnlose Meetings gibt (ein Retro-Dauerbrenner). Schon bildet sich ungewollt eine explosive Atmosphäre. Die Verpuffung möchte man in der Regel nicht herbeiführen, also wie vorbeugen? Letztendlich gibt es viele Faktoren, die auf den Erfolg von Retrospektiven einzahlen. Was schützt nun vor Verpuffung? Kurzgesagt: Realismus und Nachhaltigkeit. Ich habe ja bereits einige Ansätze genannt, aber wie so oft im Agilen kommt es auf die Situation an. Kleine erreichbare Stellschrauben sollten nicht übersehen werden bei dem Wunsch, am ganz großen Rad zu drehen.
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Jahresrückblick
Zum Jahresende mache ich gerne eine „Geist-von-Weihnachten-Retrospektive“, in der wir auf die Retros des ablaufenden Jahres zurückblicken und schauen, welche Vorhaben wir festgehalten haben und ob bzw. wie wir sie umgesetzt haben. Das schafft ein Bewusstsein dafür, wie viel bewegt wurde und erinnert an Verbesserungen, die mittlerweile schon als selbstverständlich angenommen werden. Es wird gemeinsam bekräftigt, weiter dem Verbesserungsprinzip zu folgen und entsprechend den Erkenntnissen des Jahresrückblicks ggf. am Vorgehen nachjustiert.
Schaffung einer positiven Atmosphäre
Gerade aus einer Situation heraus, in der hoher Arbeitsdruck besteht, kann es für Teammitglieder schwierig sein, den Kontextwechsel hinzukriegen. Unter dem Damoklesschwert der Ticketflut oder kognitiv tief in der Umsetzung einer User Story zu sein, kann das Empfinden hinterlassen, durch die Retro aus etwas Wichtigerem gerissen zu werden. Es geht hierbei nicht um tatsächlich unternehmenskritische Ereignisse. Klar kann es auch mal Wichtigeres als eine Retrospektive geben. Unternehmenskritisch wird jedoch schon mal etwas weit gesteckt und bildet dann eine dauerhafte Dysfunktion, die am besten in einer Retro zu behandeln ist.
Wie eine positive Atmosphäre geschaffen werden kann, hängt von den Beteiligten ab. Das Team zu fragen, gleichzeitig aber auch Vorschläge mitzubringen ist ein guter Ansatz. Ein Eisbrecher zum Start kann Wunder bewirken und den Kontextwechsel ermöglichen. Beispiele gibt es viele: Von einer Frage wie „Was ist dein Lieblingstier und weshalb?“ bis hin zu Spielen wie „Wahrheit oder Lüge“, bei der jeder eine oder mehrere Anekdoten erzählt und das Team erraten muss, ob sie stimmen.
Ob es gelingt, diese positive Atmosphäre zu schaffen, hängt davon ab, wieviel Zeit zur Verfügung steht, was bezweckt wird und wer die Teilnehmer:innen sind oder wie fortgeschritten ein Team ist. Wie bereits geschrieben, können manche Teams sofort in die Themenfindung springen. Bei anderen geht es darum, dass jede:r mal den Raum findet, sich zu artikulieren, vom Vorherigen abzuschalten, Spaß zu haben oder Offenheit herbeizuführen. Das ist bei jedem Team letztendlich abhängig von den involvierten Charakteren. Zum Beispiel kann ein Scrum Master mit geringen People Skills (möglicherweise befördert im Rahmen einer „Hauptsache-intern-besetzt-Philosophie“) häufig daneben liegen.
Verbesserung braucht Zeit
Verbesserung braucht Zeit – das würde jede:r unterschreiben. Weshalb also ist es so schwierig, Zeit zu schaffen? Der große Wurf wird nicht sofort gelingen. Eindeutige Priorisierung kann helfen. Der Product Owner erfüllt die Gatekeeper-Funktion und stoppt ungeplante Aufgaben von außen bzw. bringt sie in eine Priorisierungsreihenfolge. Die Zeitfresser müssen im Team erarbeitet und in kleinen Schritten gelöst werden. Manches geht hierbei sicherlich nur perspektivisch. Eine schreckliche Architektur beispielsweise wird nicht über Nacht besser.
Timeboxing und klare Struktur
Ja, man kann sich in Diskussionen verlieren und Aussagen werden redundant getätigt. Das passiert. Hier hat der oder die Moderator:in die Aufgabe, ebendies zu erkennen und die Diskussion entsprechend zu steuern. Es muss noch Zeit für die Findung eines Lösungsansatzes gegeben sein, bevor nur schnell etwas durchgeboxt wird. Ein reifes Team entwickelt sich dahin, dass die Struktur intrinsisch befolgt wird und nicht nur auf Ermahnung durch den Scrum Master. Die Charaktere finden ihre Rolle im Team und bringen sich ein.
Retro-Demenz vermeiden
Der Feind nachhaltig umgesetzter Vorhaben ist das Besprechen und Vergessen. Wie weiter oben erwähnt, funktioniert schon das Dokumentieren nicht, fehlt auch die Nachhaltigkeit. So kann es gut sein, dass die verabschiedeten Retro-Themen erst wieder in der nächsten Retrospektive adressiert werden. Insofern die Themen keinerlei Präsenz dazwischen haben, kann auch keine Nachhaltigkeit entstehen. Neben den bereits genannten Ansätzen (im Backlog einplanen oder explizites Ownership) kann allein schon das Ansprechen des Stands bestimmter Retro-Themen im Daily Wunder bewirken.
Déja-vu-Erlebnisse abschaffen
Mir tut es immer leid, wenn ich erfahre, dass Teams in den vergangenen Retrospektiven ständig dieselben Punkte ansprechen, ohne dass sich etwas ändert. Die Ursachen dafür sind vielfältig, aber die Stellschrauben der bereits genannten Lösungsansätze kommen da zum Tragen. Es ist wichtig, den Zyklus der ewigen Wiederholungen zu brechen, beispielsweise dass erstmal nur ein kleiner Schritt gegangen wird, mit der Umsetzung von etwas konkret Greifbarem.
Zum Schluss noch ein Retro-Thema, das ebenfalls überraschend häufig vorkommt: der Abbau von Kopfmonopolen bzw. ihr fehlender Abbau. Ein vollumfänglich cross-funktionales Team zu haben, ist fantastisch – jedoch äußerst selten. Gerade wenn es in die Tiefe geht, ist es eher unwahrscheinlich, dass Skills gut verteilt sind. Bottlenecks (auch vor allem außerhalb der Teams) führen zu Abhängigkeiten und der Disruption von Abläufen. Hier reicht es oft schon aus, im Planning zu klären, wer gemeinsam an welcher Aufgabe mitarbeiten sollte, um schrittweise Wissen zu verbreiten. Wenn es keine Zeit dafür gibt, dann siehe oben.
Das große Bild erkennen und Ansätze finden
(Fast) alles hängt miteinander zusammen. Eine holistische Sicht hilft dabei, zu erkennen, dass kleine Änderungen schon viel bewirken können. So lässt sich ein Momentum verursachen, das Teams den Status quo verlassen lässt und in ihrer Reife voranbringt.
Also: Seid offen, mutig und respektvoll im Umgang miteinander und der Arbeit. Wählt kleine Schlachten und vergesst dabei nicht, am größeren Rad der Strategie (habt ihr eine?) mitzudrehen. Sehenden Auges eine ungewollte Verpuffung herbeizuführen, sollte etwas von gestern sein.